Aufklärung: Sieg der Vernunft?

Aufklärung: Sieg der Vernunft?
Aufklärung: Sieg der Vernunft?
 
Die »Aufklärung ist Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte« — mit diesen Worten leitete Ernst Troeltsch 1897 seinen heute noch grundlegenden Versuch ein, Wesen und Zielsetzungen der Aufklärung zu bestimmen. Sie sei »keineswegs eine rein oder überwiegend wissenschaftliche Bewegung, sondern eine Gesamtumwälzung der Kultur auf allen Lebensgebieten« gewesen, die von fundamentalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen begleitet wurde und zu ihnen beitrug. Mit diesen Feststellungen unternahm Troeltsch den Versuch, den Begriff der Aufklärung von eng gefassten und häufig mit negativ wertender Tendenz versehenen Begriffsbestimmungen zu befreien. Gerade im Deutschland um 1900 galt die Aufklärung vielfach nur als Synonym für platten Rationalismus und seichte Popularisierung, für eine philosophische und literarische Strömung, die sich durch ihre Trivialität auszeichnete und in Deutschland seit 1770/80 durch den Sturm und Drang, durch Weimarer Klassik, Romantik und deutschen Idealismus »überwunden« worden sei. Tatsächlich bedeutete die Aufklärung jedoch nicht weniger als die Durchsetzung einer neuen Form der Weltdeutung und der praktischen Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Verhältnissen in Kirche und Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, wobei so gut wie alle Bereiche der wissenschaftlichen und literarischen Kultur erfasst wurden.
 
 Entstehung und Entwicklung
 
Der Beginn der Aufklärung ist kaum eindeutig festzulegen. Dies liegt weniger an den Phasenverschiebungen zwischen den einzelnen Ländern, wenngleich vor allem den philosophischen Strömungen und der naturwissenschaftlichen Forschung in den Niederlanden und im England des 17. Jahrhunderts eine Vorreiterrolle zukam, die einen eminenten Einfluss auf die Entwicklung der Aufklärung im übrigen Europa, insbesondere in Frankreich und Deutschland ausübte. Schwierig erscheint es vor allem, die großen philosophischen Systeme des 17. Jahrhunderts in ihrem Verhältnis zur Aufklärung eindeutig zu bestimmen. So waren etwa in dem von Francis Bacon entworfenen Programm empirischer Forschung, im Rationalismus eines René Descartes, in der materialistischen Grundlegung einer Wissenschaft von der Natur und vom Menschen durch Thomas Hobbes oder in dem Praxisbezug theoretischer Erkenntnis bei Gottfried Wilhelm Leibniz Positionen vorgeprägt, die noch im 18. Jahrhundert von grundlegender Bedeutung blieben; ihre Vertreter gehören, zwar noch nicht als Repräsentanten der Aufklärung, in einem unmittelbaren Sinne zu jenen geistesgeschichtlichen Entwicklungsprozessen, mit denen die Aufklärung verbunden war.
 
Die Anfänge in England, Frankreich und Deutschland
 
Immerhin lassen sich für drei Kernländer der Aufklärung, für England, Frankreich und Deutschland, Zäsuren angeben, die geradezu den jeweiligen Beginn der Aufklärung markieren. In England bedeutete die Glorreiche Revolution von 1688 nicht nur den Ausgangspunkt der weiteren politischen Entwicklung des Landes, sondern bildete auch die unmittelbare Voraussetzung für die Veröffentlichung der beiden Abhandlungen »Über die Regierung« (Two treatises of government, 1690) von John Locke, die die Revolution nachträglich rechtfertigten. Zu ihnen kam, zum Teil bereits Jahre vorher niedergeschrieben, die in rascher Folge erschienene Reihe seiner übrigen Hauptwerke: Bereits 1689 wurde der erste »Brief über Toleranz« (Letter concerning toleration) veröffentlicht, 1690 die Schrift »Über den menschlichen Verstand« (An essay concerning human understanding); vier Jahre später folgten die »Gedanken über Erziehung« (Some thoughts concerning education). In erstaunlicher zeitlicher Gedrängtheit wurden mit diesen Schriften Leitmotive vorgegeben, die im ganzen folgenden Jahrhundert nicht an Aktualität verloren: Der Gedanke einer auf unveräußerlichen Menschenrechten beruhenden Teilhabe der Bürger an der durch Gewaltenteilung vor Missbrauch geschützten Regierungsgewalt, die Idee konfessioneller Toleranz, die erkenntnistheoretische Grundlegung des Empirismus und das Konzept einer den natürlichen Anlagen gemäßen Erziehung.
 
In Frankreich stellte die »Querelle des Anciens et des Modernes«, der »Streit der Alten und der Modernen«, der im Januar 1687 durch den Schriftsteller Charles Perrault ausgelöst wurde, ein Fanal dar, das für den bewussten Bruch mit der autoritativen Geltung der Tradition stand. Nur vordergründig entspann sich die Auseinandersetzung an der literaturtheoretischen Frage nach dem Vorrang und der Vorbildhaftigkeit der antiken Dichtung. Indem sie in den Vergleich zwischen der Antike und der Neuzeit die Wissenschaften einbezogen, entwickelten Perrault und vor allem Bernard Le Bovier de Fontenelle den Gedanken der Überlegenheit der Neuzeit gegenüber den »Alten« 1688 zu einer Fortschrittstheorie weiter, die den Zuwachs an Erkenntnissen im Sinne einer Höherentwicklung des Menschengeschlechts deutete. Der Gedanke des Fortschritts, das Vertrauen in den Prozess wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung und die Idee der kollektiven Vervollkommnung des Menschen wurden hier erstmals systematisch ausformuliert.
 
Für Deutschland wird vielfach Christian Thomasius' deutsche Ankündigung einer deutschsprachigen Vorlesung im Jahre 1687 und seine Herausgabe der »Monatsgespräche« als einer gelehrten, aber deutschsprachigen und zugleich in einer lockeren literarischen Form geschriebenen Zeitschrift seit 1688 mit dem Beginn der Aufklärung gleichgesetzt. Entscheidend ist hierbei, dass die Wahl der allgemein verständlichen Muttersprache statt des Lateinischen und die Nutzung eines auf größere Breitenwirksamkeit zielenden Mediums die Begrenzung des wissenschaftlichen Diskurses auf den Kreis der Gelehrten zu überwinden suchte und damit das für die Aufklärung charakteristische Anliegen der Verbreitung und Popularisierung von Erkenntnissen programmatisch zum Ausdruck brachte.
 
Das »Zeitalter der Aufklärung«
 
So einprägsam die genannten Daten auch sein mögen, die in ihrer Parallelität einen Wendepunkt in der europäischen Geistesgeschichte anzuzeigen scheinen, so darf darüber doch nicht verkannt werden, dass sie letztlich eher symbolhaft für eine Entwicklung stehen, die in ihren Ursprüngen bereits eingeleitet worden war und sich in ihrer Entfaltung über einen längeren Zeitraum erstreckte. Unter stetem Bezug auf die Vorgängerleistungen des 17. Jahrhunderts setzte der französische Literarhistoriker Paul Hazard in den Jahrzehnten von 1680 bis 1715 jene »Krise des europäischen Bewusstseins« an, in der sich der geistesgeschichtliche Durchbruch auf breiter Front vollzog. Das 18. Jahrhundert gilt als das eigentliche »Zeitalter der Aufklärung«, und tatsächlich besaß die Aufklärung in den Jahrzehnten bis zur Französischen Revolution eine Dominanz auf allen Gebieten der Wissenschaft und Literatur. Darüber darf jedoch nicht verkannt werden, dass sie stets eine geistige Strömung blieb, die es mit starken Gegenkräften zu tun hatte. So setzten etwa die Mächte der kirchlichen Orthodoxie während des ganzen 18. Jahrhunderts den neuen Ideen einen Widerstand entgegen, der die Aufklärung zugleich stimulierte, indem er ihrer Kritik die Zielrichtung vorgab. Hinzu kam, dass die Aufklärung keine einheitliche Bewegung war. Empirismus und Rationalismus, Fortschrittsglauben und Fortschrittsskepsis, die Überzeugung vom wohltätigen Einfluss der Wissenschaften auf die Entwicklung des Menschengeschlechts und die radikale Infragestellung dieser Überzeugung durch Rousseau, die Hoffnung auf den aufgeklärten Monarchen und das Postulat der Volkssouveränität trugen gemeinsam zu einem Bild bei, das die Aufklärung als in sich ungemein spannungsreiche Bewegung erscheinen lässt, in der auf dieselben Fragen höchst unterschiedliche Antworten gegeben wurden. Ihre sich über mehr als ein Jahrhundert erstreckende Entwicklung trug zu dem variantenreichen Spektrum unterschiedlicher Positionen bei; dazu kamen unterschiedliche nationale Ausprägungen in den europäischen Ländern.
 
 Merkmale und Leitbegriffe
 
Gleichwohl lassen sich übergreifende Merkmale ausmachen, durch die sich die Aufklärung als historische Erscheinung mit einem charakteristischen Profil umreißen lässt und die zugleich die Frontstellungen deutlich machen, aus denen sie, eine durchaus polemische Bewegung, ihre Dynamik bezog. Dazu scheinen am ehesten jene Leitbegriffe geeignet, die von den aufgeklärten Zeitgenossen immer wieder verwendet wurden und die für ihr Selbstverständnis grundlegend waren.
 
Das Licht der »Aufklärung«
 
An herausragender Stelle stand der Begriff der Aufklärung selbst, der in den europäischen Sprachen durch verwandte Ausdrücke — les lumières, enlightenment, illuminismo — wiedergegeben wird, die alle die Metaphorik des Lichts und des Hellerwerdens aufgreifen. Zur zentralen Programmidee avancierte der Begriff »Aufklärung« vor allem in Deutschland, wo er etwa von Immanuel Kant zur Charakterisierung der Epoche verwendet wurde — freilich mit der Einschränkung, dass es sich noch nicht um ein »aufgeklärtes Zeitalter« handele, sondern eben erst um eines der »Aufklärung«. Als umfassende Bezeichnung für das »Ganze jener Geistesbewegung des 18. Jahrhunderts« (Horst Stuke) wurde der Ausdruck von den Zeitgenossen allerdings auch hier noch nicht verwendet, dies blieb erst den Begriffsbestimmungen seit dem 19. Jahrhundert vorbehalten.
 
Ursprünglich wurde das Wort »aufklären« vor allem für jenes meteorologische Phänomen — das »Aufklaren« des Himmels — verwendet, das den Aufklärern zur allegorisch-bildhaften Veranschaulichung ihres Anliegens diente: Die Sonne bricht durch den Nebel und die Wolken der Unkenntnis und verbreitet ihr Licht. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert wurde der Ausdruck auf eine Verstandestätigkeit bezogen, die die Erweiterung und Berichtigung von Kenntnissen zum Ziel hatte. »Aufklärung« war im Verständnis der Zeit vielfach gleichbedeutend mit einer »Ausbesserung des Verstandes«, die zu »klaren«, deutlich eingesehenen und für richtig erkannten Begriffen führte. Das Ziel der Aufklärung war Erkenntnis, und dazu gehörte zuerst auch deren schlichte Ausweitung.
 
Der Stellenwert dieses Anliegens kann kaum hoch genug veranschlagt werden. Der Optimismus der Aufklärung erhielt seine Gewissheit nicht zuletzt durch den Fortschritt, den die Gewinnung neuer Erkenntnisse, vor allem auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, seit dem 17. Jahrhundert gemacht hatte. Das bedeutendste kollektive Unternehmen der europäischen Aufklärung, die »Encyclopédie« Denis Diderots und Jean Le Rond d'Alemberts, erlangte ihre zündende Wirkung zwar durch die Kritik an der Religion und an der politischen und sozialen Ordnung, die in zahlreichen Artikeln geäußert wurde, im Kern aber zielte das Unternehmen als »umfassende Bestandsaufnahme damaligen Wissens« (Horst Möller) auf die systematische Aufbereitung der Kenntnisse, die in den Wissenschaften, »Künsten« und Handwerken bis dahin erarbeitet worden waren, und wollte damit zugleich den Ausgangspunkt für ihre künftige Erweiterung bereitstellen.
 
Vernunft und Kritik
 
Der Begriff der »Vernunft« wurde im 18. Jahrhundert vielfach beinahe schlagwortartig verwendet, er erweist sich in seinem philosophischen Gehalt aber zugleich als außerordentlich komplex. Die Frage nach der Reichweite der Vernunft als menschlichem Erkenntnisvermögen bestimmte seit dem 17. Jahrhundert die Auseinandersetzungen zwischen der Erkenntnistheorie des neuzeitlichen Rationalismus und der des Empirismus: Postulierten die Rationalisten im Gefolge Descartes' ein nichtempirisches, also nicht aus der Erfahrung, sondern aus Vernunftprinzipien (deduktiv) abgeleitetes Wissen, so bestritt der von Locke entwickelte Empirismus die Existenz eingeborener Ideen. Als Grundlage aller Erkenntnis erscheint bei ihm die sinnliche Erfahrung, während dem Verstand und der Vernunft lediglich die Aufgabe zukommt, die aus den Einzelerfahrungen gewonnenen Einsichten zu verknüpfen und auf induktivem Wege, vom Besonderen zum Allgemeinen führend, Schlüsse zu ziehen. Für Immanuel Kant bildete schließlich der unaufgelöste Widerspruch zwischen den beiden erkenntnistheoretischen Prinzipien den Ausgangspunkt seiner Vernunftkritik, mit der er beide in ihre Schranken verwies, indem er die Abhängigkeit der Erfahrungserkenntnisse von ihren vorgegebenen (apriorischen) Bedingungen ebenso zeigte wie das Unvermögen der reinen Vernunft, über den Bereich möglicher Erfahrung hinaus zu sicheren theoretischen Urteilen zu kommen; der reinen Vernunft blieb das Feld der praktischen Philosophie als eigentlicher Erkenntnisgegenstand überantwortet. Mit der Selbstreflexion der Vernunft über ihre Grenzen gilt Kant vielfach als Überwinder der Aufklärung, doch stand auch er noch in deren Tradition. Ihren Charakter als Leitbegriff bezog die Vernunft im 18. Jahrhundert jedenfalls nicht als konstruierende Vernunft im Sinne des Rationalismus, sondern vor allem aus ihrer kritischen Funktion, durch die sie zugleich eine gegen den Glauben gerichtete polemische Tendenz erhielt.
 
Im Sinne des Prüfens und Beurteilens fand der Begriff der Kritik, der ursprünglich der Philologie entstammte, seit Richard Simons »Kritischer Geschichte des Alten Testaments« (1678) und Pierre Bayles »Historisch-kritischem Wörterbuch« (1696/97) bereits in zahlreiche Buchtitel Eingang. Zwar besaß der Begriff im Einzelnen unterschiedliche Bedeutung; Literaturkritik im Sinne Gotthold Ephraim Lessings oder Friedrich Nicolais etwa meinte etwas anderes als der Versuch Kants, die Grenzen zu bestimmen, die dem Erkenntnisvermögen der reinen Vernunft gesetzt sind. Zu einem Grundanliegen der Aufklärung wurde die Kritik allerdings in jenem weiteren Sinne, in dem Kant seine Zeit als »das eigentliche Zeitalter der Kritik« bezeichnete, »der sich alles unterwerfen muss« und der sich selbst Religion und Gesetzgebung nicht entziehen könnten: Erst ihre »freie und öffentliche Prüfung« erlaube es ihnen, auf »unverstellte Achtung« Anspruch zu erheben. Aufklärung bedeutete demnach die grundsätzliche Infragestellung aller Dogmen, Traditionen und Autoritäten, die zu ihrer Anerkennung der Überprüfung bedurften, und sie machte dabei selbst vor dem Heiligsten nicht Halt, indem sie davon auch die in den Büchern des Alten und des Neuen Testaments niedergelegte Offenbarung nicht ausnahm.
 
Kants Maxime: Jederzeit selbst denken
 
Der Grundsatz, Glaubenssätze und Lehrmeinungen nicht ohne ihre kritische Prüfung anzunehmen, nichts für wahr zu halten, was nicht am »Probierstein« der eigenen Vernunft seine Bestätigung fand — dies entsprach der »Maxime, jederzeit selbst zu denken«, die von Kant geradezu als das eigentliche Wesen der »Aufklärung« bestimmt wurde. In dem Begriff des »Selbstdenkens« bündeln sich Grundanliegen der Aufklärung, die im Laufe des 18. Jahrhunderts Wandlungen unterworfen waren, in ihrem Kern aber die Beständigkeit eines zentralen Leitmotivs aufwiesen.
 
»Selbstdenken« bestand nicht im Verzicht auf die Berücksichtigung fremder Urteile, sondern schloss diese als Mittel zur Überprüfung der eigenen notwendig ein. »Aufklärung« bedurfte des freien öffentlichen Gedankenaustauschs, der ungehinderten wechselseitigen Mitteilung, kurz: der Publizität als unabdingbarer Voraussetzung für den wissenschaftlichen Diskurs. Hinzu kam, dass die Aufklärung im Prinzip auf die allgemeine Verbreitung von Erkenntnissen zielte. Die Ausweitung des Rezipientenkreises von Literatur im weitesten Sinne, des »Publikums«, stellte ein wesentliches Kennzeichen der Aufklärung dar. Charakteristisch für diesen Prozess waren die quantitativen und qualitativen Veränderungen des Lesemarktes, die sich in der unaufhörlich anschwellenden Zahl von Druckwerken, im Aufkommen des Zeitschriftenwesens, in der Verdrängung des Lateinischen als Schriftsprache, der Abnahme der Zahl theologischer Bücher im Verhältnis zu säkularen Lesestoffen und schließlich auch im Anwachsen der Anzahl der Schriftsteller zeigten. Der sozialgeschichtliche Entwicklungsprozess der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert war ebenso ein Resultat der Aufklärung als geistiger und sozialer Bewegung wie ihr treibender Faktor, insofern er sie stimulierte und letztlich überhaupt erst ermöglichte. »Publizität« gelangte in den Rang eines obersten Prinzips, das den Fortschritt der Aufklärung garantieren sollte und zugleich eine kritische Dimension erhielt: Die damit verbundene Forderung nach »Pressfreiheit« galt in den Augen vieler Aufklärer als wichtigstes Freiheitsrecht, das, nach einem vor allem in Deutschland verbreiteten Glauben, auch für die Verbesserung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse eine ausreichende Garantie bot.
 
 Bedeutung und Wirkung
 
Mit all dem war ein Perspektivenwechsel verknüpft, durch den sich die Aufklärung von dem vorangegangenen konfessionellen Zeitalter entscheidend abhob. Konfessionelle Toleranz zählte zu den Kernanliegen der Aufklärung, doch war sie keine grundsätzlich areligiöse oder auch nur antichristliche Bewegung. Dogmen- und Offenbarungskritik waren zwar untrennbar mit ihr verbunden, doch war es ihr häufig genug ein Anliegen, Vernunft und Offenbarung miteinander zu verbinden. Die im England des 17. Jahrhunderts entwickelte Vernunftreligion des Deismus, die radikale Kirchenkritik eines Voltaire oder der Atheismus, wie er von Julien Offray de La Mettrie und dem Baron Paul Henry Thiry d'Holbach vertreten wurde, waren vor allem für die Aufklärung in England und Frankreich charakteristisch, während es in Deutschland weit seltener zu einer entschiedenen Ablehnung des Christentums kam. Überall bedeutete die Aufklärung allerdings einen Prozess der Säkularisierung des Denkens, in dem der Glaube und das Jenseits als Fluchtpunkt des menschlichen Strebens an Bedeutung verloren. Stattdessen stellte sie den Menschen mit seiner diesseitigen Existenz in den Mittelpunkt und begriff die Verwirklichung irdischer Glückseligkeit als seine eigentliche Aufgabe.
 
Moral und Tugend
 
Dies zeigte sich insbesondere in dem Stellenwert, den die Moral im Denken der Aufklärung einnahm. Gegenüber der Religion erfuhr die praktische Philosophie eine Aufwertung, die das Verhältnis zwischen beiden letztlich umkehrte: Tugend war nicht mehr bloß Forderung des Glaubens, vielmehr wurde die Religion in den Dienst der Moral gestellt und erlangte ihre Bedeutung als Mittel zu ihrer Beförderung. Bereits durch den irisch-englischen Deisten John Toland wurde das Christentum auf seine Funktion als Morallehre reduziert, und mit der Aufklärungstheologie der deutschen »Neologen« in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts prägte die moralische Interpretation des Christentums und die Relativierung von Kernaussagen des Luthertums weite Teile der protestantischen Geistlichkeit Deutschlands. Jesus Christus galt damit nicht mehr in erster Linie als Erlöser, sondern als Muster der Tugend.
 
Moral, Tugend, Sittlichkeit sind Schlüsselbegriffe der Aufklärung, und nicht zufällig widmete sich die praktische Philosophie der Zeit immer wieder der Aufgabe, ihre Geltung neu und zugleich säkular zu begründen. Der Entwurf einer utilitaristischen Ethik durch Jeremy Bentham und die Neubegründung der Moral durch den kategorischen Imperativ Immanuel Kants stellen die beiden bis heute einflussreichsten Versuche des 18. Jahrhunderts dar, die Ethik auf eine neue Grundlage zu stellen. Der Moralismus der Aufklärung hatte nichts mit dem Klischee einer leibfeindlichen »bürgerlichen« Moral zu tun. Charakteristisch war eher eine durch Vernunft gezügelte Wiedereinsetzung der »Sinnlichkeit« in ihre Rechte, eine partielle Rehabilitation, die im Rahmen des moralisch Erlaubten den maßvollen Genuss einschloss und sich von den weltflüchtig-asketischen Richtungen innerhalb der christlichen Konfessionen deutlich abhob.
 
Das Ziel — Die Veränderung der vorgefundenen Verhältnisse
 
Dabei verband sich die primär auf innerweltliche Ziele gerichtete Betonung moralischer Pflichten nicht nur mit der Vorstellung sittlichen Handelns in individuellen zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Begriff der »Nützlichkeit« schloss als Leitmotiv des Handelns vielmehr die Verpflichtung gegenüber dem Ganzen, der Gesellschaft, dem Vaterland ein. Kennzeichnend war ein auf praktische Wirksamkeit gerichtetes Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Menschheit und dem Gemeinwesen, das die Überzeugung von deren Gestaltungs- und Verbesserungsfähigkeit voraussetzte. Aufklärung zielte auf die Veränderung der Verhältnisse, war »kritisches Denken in praktischer Absicht« (Werner Schneiders).
 
Bereits Leibniz verband mit seinen Plänen zur Errichtung von wissenschaftlichen Akademien den »Zweck, theoriam cum praxi (die Theorie mit der Praxis) zu vereinigen«. Es komme nicht allein auf die Förderung von Künsten und Wissenschaften an, sondern auch darauf, »Land und Leute, Feldbau, manufacturen und commercien und, mit einem Wort, die Nahrungsmittel zu verbessern«. Leibniz formulierte damit im Kern das Programm der gemeinnützig-ökonomischen Aufklärung, die beinahe ganz Europa ergriff. Mit dem Ziel einer umfassenden Hebung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse knüpfte sie an die Konzepte staatlicher Wirtschaftspolitik an, wie sie seit dem 17. Jahrhundert entwickelt worden waren, wobei der Agrarsektor eine erheblich stärkere Beachtung fand als im Merkantilismus französischer Prägung und sich das zentrale Leitmotiv von der Stärkung staatlicher Macht auf die allgemeine Wohlfahrt verschob.
 
Vor allem aber beschränkte sich die gemeinnützig-ökonomische Aufklärung nicht auf den theoretischen Entwurf wirtschaftspolitischer Maßnahmen, sondern ergriff in den Formen des entstehenden bürgerlichen Vereinswesens selbst die Initiative. Nach dem Vorbild der Society for the Improvement of Husbandry, Agriculture and other useful Arts (Gesellschaft zur Verbesserung des Wirtschaftens, der Landwirtschaft und anderer nützlicher Künste), die — nach einem Vorläufer in Schottland — 1731 als erstes Beispiel einer gemeinnützigen Gesellschaft zur Bewältigung der Folgen einer Hungersnot in Dublin gegründet wurde, entstanden seit den 1750er-Jahren überall in Europa Gesellschaften, die sich zur Ergänzung staatlicher Maßnahmen die Förderung der Landwirtschaft, die Organisation des Armenwesens, die Unterstützung von Handel und Gewerbe und die Verbesserung des Erziehungswesens zum Ziel gesetzt hatten.
 
In der uneinheitlichen Mitgliederstruktur der zahlreichen Gesellschaften — Akademien, Freimaurerlogen, Lesegesellschaften —, die einen wesentlichen Anteil an der Entstehung der aufgeklärten Öffentlichkeit hatten, zeigte sich auch der »ständetranszendierende« (Horst Möller) Charakter der Aufklärung, zu deren aktiven Trägern neben den dominierenden bürgerlichen Akademikern auch zahlreiche Adlige zählten. Sie lässt sich damit keineswegs auf eine »bürgerliche« Ideologie reduzieren, doch war der Gedanke bürgerlicher Gleichheit in ihr vorgeprägt, und dies hieß auch: Der Wert des Menschen, individuelle Leistung und Tüchtigkeit rangierten vor der vererbten Würde.
 
Die Politisierung der Aufklärung
 
Ihr kritisches Potenzial entfaltete die Aufklärung in der Forderung nach staatlichen Reformen, die im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend die aufklärerische Publizistik bestimmte und sich etwa auf die Wirtschaftspolitik, das Schul- und Hochschulwesen sowie das Rechtssystem erstreckte. So wurden im Bereich des Strafrechts Gedanken zu seiner Humanisierung entwickelt, die bei dem Italiener Cesare Beccaria bis zur Abschaffung der Todesstrafe reichten. Mit ihren Reformzielen standen die Aufklärer nicht unbedingt im Gegensatz zum Staat, doch zeigte sich in der Diskussion staatlicher Aufgaben der Anspruch der Öffentlichkeit, auf die Politik ihrer Regierungen Einfluss zu nehmen. Vor allem in Deutschland prägte eine ebenso kritische wie staatsloyale »Politisierung der Aufklärung« die Haltung eines Großteils der Aufklärer, aber auch in Frankreich setzten mit Voltaire oder den Physiokraten viele Philosophen ihre Hoffnungen auf einen despotisme eclairé, einen »aufgeklärten Despotismus«. Mit dem Gedanken einer auf den Prinzipien der Volkssouveränität und unveräußerlicher Menschenrechte beruhenden Verfassung, wie sie zunächst in England und Frankreich von politischen Theoretikern wie Locke, Montesquieu und Rousseau entwickelt wurden, wies die Aufklärung allerdings in letzter Konsequenz über die kontinentaleuropäischen Staatsformen hinaus: Zwar schlossen Aufklärung und Absolutismus einander keineswegs grundsätzlich aus, doch stellte die Aufklärung auch das theoretische Rüstzeug zu dessen revolutionärer Überwindung bereit.
 
Dr. Georg Seiderer
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Menschenrechte: Von kollektiven und individuellen Rechten
 
 
Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, herausgegeben von Franklin Kopitzsch. München 1976.
 Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 21932. Nachdruck Tübingen 1973.
 Dülmen, Richard van: Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland. Neuausgabe Frankfurt am Main 1996.
 Hazard, Paul: Die Herrschaft der Vernunft. Das europäische Denken im 18. Jahrhundert. Aus dem Französischen. Hamburg 1949.
 ImHof, Ulrich: Das Europa der Aufklärung. München 21995.
 ImHof, Ulrich: Das gesellige Jahrhundert. München 1982.
 Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Taschenbuchausgabe München 1986.
 
Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, herausgegeben von Werner Schneiders. München 1995.
 Möller, Horst: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 31993.
 Schneiders, Werner: Das Zeitalter der Aufklärung. München 1997.
 Weigl, Engelhard: Schauplätze der deutschen Aufklärung. Ein Städterundgang. Reinbek 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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